Monday 11 March 2024

Mitterer Deutsch / Croatisch UND Latein / Französisch


Antworten nach Sorte: Mitterer Deutsch / Croatisch UND Latein / Französisch · Φιλολoγικά/Philologica: Latein und Romanisch

Also, zunächst antwortet er über Deutsch und Croatisch, dann discutieren wir Latein und Französisch.

Ist das "Heraustreten aus einer Vorgängersprache" immer nur ein "Classificationsschritt"? Für Mitterer, ja, für mich, nein.

Frage
Welche Sprache ist älter: Deutsch oder Kroatisch?
https://de.quora.com/Welche-Sprache-ist-%C3%A4lter-Deutsch-oder-Kroatisch/answer/Josef-G-Mitterer


Antwort von
Topsy Krett
angefordert

Josef G. Mitterer
Autor von: Sprachmythen. Was man sich über Sprachen erzählt
Vor 6 Monaten
Wie schon öfters gesagt: Was die Substanz anbelangt, haben solche Fragen keinen Sinn. Deutsch und Kroatisch gehen in ununterbrochener Tradition auf das Proto-Indoeuropäische zurück, die letzte gemeinsame Vorstufe der beiden Sprachen. Es gibt daher keine ältere Sprache.

Unterscheiden kann man allenfalls das Alter der frühesten Schriftdenkmäler oder einen mehr oder weniger willkürlich gesetzten Klassifikationsschritt (Heraustreten aus einer Vorgängersprache, offizielle Anerkennung als Sprache, Übergang aus einer anders benannten Vorstufe wie Alt… etc.), aber die Sprache im Sinn des effektiven Sprachmaterials hat mit solchen Kategorisierungen nichts zu schaffen.

Vor 6 Monaten

Hans-Georg Lundahl
"Heraustreten aus einer Vorgängersprache"

Kreeith en ün Djew
Geschrieben: Credo in unum Deum
Geschrieben: creith en un Dieu

Ist das nur "Classificationsschritt"?

Josef G. Mitterer
Sprachen verändern sich ständig, auch innerhalb eines Jahrzehnts. Der Klassifikationsschritt besteht darin, ab irgendeinem Zeitpunkt von einer neuen Sprache oder Sprachstufe zu sprechen.

Es ist "nur" ein Klassifikationsschritt, weil ja nichts materiell Neues entstanden ist, sondern nur stetige Veränderung vorliegt.

Hans-Georg Lundahl
Materiell neu : gelehrte lateinische Phrasen wie "protoplastus" oder "vellem ire" höhren auf als eine höhere Schicht der eigenen Sprache angesehen zu werden, und werden stattdessen zu einer Fremdsprache.

Das ändert radical die Richtung der Veränderungen dessen was seitdem Französisch wurde.

Ich teilte
"Heraustreten aus einer Vorgängersprache" (usw)
https://de.quora.com/profile/Hans-Georg-Lundahl-2/Heraustreten-aus-einer-Vorg%C3%A4ngersprache-Kreeith-en-%C3%BCn-Djew-Geschrieben-Credo-in-unum-Deum-Geschrieben-creith-en-un


Selbe zwei
Commentare wie oben, von Mitterer und von mir, dann

Mo, 11.III.2024

Josef G. Mitterer
Es gibt aber keinen präzisen Zeitpunkt, an dem Latein zu Französisch wurde, und es gibt auch keine Einzelerscheinung, die plötzlich aus dem Latein das Französische gemacht hätte.

Es ist für die Entwicklung jeder Sprache ganz normal, dass die frühen Stufen irgendwann einmal eine Fremdsprache werden und dass manche Wörter oder Formensysteme wegfallen oder hinzukommen, aber es handelt sich immer um eine stete Entwicklung, weshalb es eben eine Frage der Klassifikation ist, ab wann man von einer neuen Sprache bzw. einem neuen Sprachstadium spricht.

Hans-Georg Lundahl
"Es ist für die Entwicklung jeder Sprache ganz normal, dass die frühen Stufen irgendwann einmal eine Fremdsprache werden"

Sie gehen vom deutschen Beispiel aus.

Sehen wir uns mal Englisch an. Was Chaucer sprach ist sicher heute eine Fremdsprache. Was er schrieb aber eben nicht so sehr. Wenn man's nämlich wie Neu-Englisch ausspricht. Tide und Zeit haben dieselbe Diphthongierung mitgemacht, aber tide bewahrt die Schreibung Chaucers, Zeit bewahrt nicht die Screibung zît. Oder Griechisch, Katharevousa geschrieben, Dhimotiki gesprochen, unter Bürgern eine gleitende Leiter der Register.

Das Latein des Gregor von Tours wurde grosso modo so geschrieben wie das von Caesar (jedenfalls im Vergleich zu Altfranzösisch). Es wurde grosso modo so gesprochen wie das älteste Altfranzösisch. Die Bibel auch. Diese Diglossie hätte bewahrt werden können, wurde sie aber nicht. Ich spreche von der Brechung der Diglossie. Ungefär so wie wenn aus irgendeinem Grund in England wer plötzlich Chaucers Aussprache in einem Ritus einführen würde und danach die neu-englische Aussprache eine phonetische Schreibung hätte : "ðe Teid wos törning." Oder:

"ðe hei Teid, King Älfred sed
ðe hei Teid än ðe Törn"

Da hätte man ebenfalls, geschrieben wie gesprochen, ein Ende der englischen Diglossie. Wer damit aufwüchse, ihm wäre Chaucer wirklich, auch geschrieben, eine Fremdsprache. Und das wär ein Gegenstück an der Leistung Alcuins.

Josef G. Mitterer
Die Schreibung einer Sprache spielt ja keine Rolle. Ladinisch ist lautlich ähnlich innovativ wie Französisch, aber die Schreibung ist wesentlich transparenter, da die schriftliche Tradition freilich viel jünger ist.

Wenn sich tatsächlich eine durchgehende Diglossiesituation Latein-Französisch etabliert hätte, würde das noch immer nichts am Umstand ändern, dass Neufranzösisch nur die jüngste Stufe dessen ist, was früher einmal, über weitere Zwischenstufen, Latein oder Proto-Italisch war. Das moderne Latein andererseits wäre dann einfach eine zusätzliche Sprache, die ebenfalls auf das antike Latein, Proto-Italisch usf. zurückginge. In einem gewissen Sinn ist es sogar tatsächlich so, insofern ja noch immer Texte auf Neulatein geschrieben werden, auch wenn Latein niemandes Muttersprache mehr ist (von möglichen Einzelfällen abgesehen).

Die, 12.III.2024

Hans-Georg Lundahl
"da die schriftliche Tradition freilich viel jünger ist."

Welches nun wieder eine ganz große Rolle spielt.

Unterscheidet Ladinisch zwischen Passé simple und passé composé?

"Wenn sich tatsächlich eine durchgehende Diglossiesituation Latein-Französisch etabliert hätte, würde das noch immer nichts am Umstand ändern, dass Neufranzösisch nur die jüngste Stufe dessen ist, was früher einmal, über weitere Zwischenstufen, Latein oder Proto-Italisch war."

Ach schon, ach schon … die Diglossie war schon da zur Zeit des Gregor von Tours, übrigens.

Studieren Sie bitte was im Englischen und Neugriechischen passiert, dank der Präsenz einer gerade alten schriftlichen Tradition.

Oder was im Rumänischen geschiet, dank der Vormundschaft einer fremden schriftlichen Tradition, die des Kirchslavischen.

"In einem gewissen Sinn ist es sogar tatsächlich so, insofern ja noch immer Texte auf Neulatein geschrieben werden, auch wenn Latein niemandes Muttersprache mehr ist (von möglichen Einzelfällen abgesehen)."

Situation in England seit dem hl. Augustin von Canterbury. Situation in Frankreich seit Alcuin.

Josef G. Mitterer
Welches nun wieder eine ganz große Rolle spielt.


Das würde ich gerade nicht sagen, zumindest im Zusammenhang mit der hier diskutierten Frage.

Unterscheidet Ladinisch zwischen Passé simple und passé composé?


Nicht mehr, aber es muss vor einigen Jahrhunderten noch ein einfaches Perfekt gegeben haben: Im Grödner Dialekt ist das Imperfekt von 'sein' etymologisch eine Perfektform (ie fove < FUĪ), und im Gadertaler Dialekt setzen Partizipien wie albü < *aubu 'gehabt' ein Perfekt *aube (< HABUĪ) voraus, mit Übertritt des Halbvokals in die Stammsilbe (vgl. spanisch supe über *saupe aus SAPUĪ).

Studieren Sie bitte was im Englischen und Neugriechischen passiert, dank der Präsenz einer gerade alten schriftlichen Tradition.


Was passiert denn? Es sind schriftliche Quellen von früheren Sprachstufen vorhanden. Und es besteht auch kein Zweifel darüber, dass die historischen Orthografien im Neuenglischen und Neugriechischen die Lektüre alter Texte erleichtern, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass Neugriechisch aus dem Altgriechischen hervorgegangen ist.

Hans-Georg Lundahl
Neugriechisch borgt frei aus dem Altgriechischen.

Neuenglisch borgt frei aus dem späten Mittelenglischen.

Und Französisch mit älterer Schrift-Tradition bewahrt eine distinction von Passé simple und Passé composé die in Ladinisch verloren ging.

Wäre 813 nicht passiert, Französisch borgte noch immer sehr frei aus dem Latein, u zw auch Fälle-Formen. Wer im Neugriechisch einen Dativ benutzt ist ein Petit-Maître, aber solche gibts. Französisch hätte wenigstens noch den Nominativ, der viel später verlorenging, weil eben Gregor von Tours den Unterschied macht (ja, wirklich, obwohl Dativ, Ablativ, Genitiv bei ihm mit dem Accusativ verschwimmen, er bewahrt den Nominativ).

Mann hätte warscheinlich neben der Form credutum (gesprochen crëu) auch ein creditum (gesprochen crëi)

Josef G. Mitterer
Und Französisch mit älterer Schrift-Tradition bewahrt eine distinction von Passé simple und Passé composé die in Ladinisch verloren ging.


Im Sizilianischen, mit alter, aber sehr rudimentärer und oft unterbrochener Schrifttradition und noch vor hundert Jahren hoher Rate an Analphabeten, ist das einfache Perfekt aber noch wesentlich vitaler als im Französischen, ja sogar noch vitaler als im Italienischen, und selbst die meisten "starken" Perfektformen sind bewahrt, während etwa im Spanischen die meisten analog umgebildet wurden.

Zum zweiten Punkt: Selbst wenn das Französische die Zweikasusflexion bis heute bewahrt hätte, würde das nichts an der Tatsache ändern, dass das Französische aus dem Vulgärlatein entstanden ist und dass Vulgärlatein, Altlatein, Proto-Italisch usf. frühere Stufen derselben Sprache sind. Dass von anderen Sprachen Einflüsse erfolgen oder eben ausbleiben können (und dabei ist es ganz egal, ob die Gebersprache nun Latein ist oder beispielsweise Baskisch oder Englisch), ist ja unbestritten, hat mit der Frage aber nichts zu tun.

Hans-Georg Lundahl
Zum Sizilianisch:

  1. Langwäriger Einfluß des geschriebenen Lateins als Volkssprache (bis nach 1000 oder sogar nach 1100).
  2. Was ist mit dem passé composé? Hat Sizilianisch ihn auch? Galizisch z. B. nicht.
  3. Es geht hier um einen punctuellen Archaismus, wohl weniger um das was Neugriechisch durch Katharevousa vom Altgriechisch hat.


Zum zweiten Punct. Es ist NICHT gleichgültig für die Zahl der Entlehnungen, grammatisch oder vocabulär, ob die Gebersprache eine Fremdsprache oder eine Hochschicht der Muttersprache ist. Bis 813 in Tours oder nach 1000 auf Sizilien, war Latein Hochschicht der Muttersprache. Welche demnach "alt getarnt" geschrieben wurde.

Josef G. Mitterer
Langwäriger Einfluß des geschriebenen Lateins als Volkssprache (bis nach 1000 oder sogar nach 1100).


Ein Jahrtausend natürlicher Sprachwandel besteht aber trotzdem. Und ob das geschriebene Latein wirklich einen so großen Einfluss geübt hat, wage ich zu bezweifeln.

Was ist mit dem passé composé? Hat Sizilianisch ihn auch? Galizisch z. B. nicht.


Erst spät unter eindeutigem italienischen Einfluss neugebildet und im Grunde nur bei resultativer Aktionsart verwendet.

Es geht hier um einen punctuellen Archaismus


Sizilianisch ist in vielen Bereichen archaisch, etwa in der Bewahrung zahlreicher lateinischer Neutrum-Plural-Formen (wesentlich mehr als im Italienischen), in der Abwesenheit eines sekundären Futurs, in der Verwendung des Konjunktiv Imperfekt in der Apodosis des Konditionalsatzes, in der Nachstellung des Possessivums, in der Unterscheidung zwischen volitiven und deklarativen Objektsätzen etc.

Zum zweiten Punct. Es ist NICHT gleichgültig für die Zahl der Entlehnungen, grammatisch oder vocabulär, ob die Gebersprache eine Fremdsprache oder eine Hochschicht der Muttersprache ist.


Dem ist sicher so. Allerdings sehe ich noch immer nicht, inwiefern das mit der ursprünglich diskutierten Frage zu tun hat. Im Übrigen ist die Frage, wann welcher Schritt zur Romanisierung eingetreten ist und inwieweit lateinisch Geschriebenes romanisch gelesen wurde, in der Romanistik noch immer heiß diskutiert.

Hans-Georg Lundahl
"Und ob das geschriebene Latein wirklich einen so großen Einfluss geübt hat, wage ich zu bezweifeln."

Nicht ich, solange das geschriebene Latin wie die Volkssprache ausgeprochen wird.

D. h. solange in der hl. Messe eine prachtvollere aber erkennbare Form der Muttersprache gesprochen wurde.

"inwiefern das mit der ursprünglich diskutierten Frage zu tun hat."

Bis 800–813 in Tours und noch 200 Jahre später in Spanien / Italien ist das geschriebene Latein eine prachtvolle aber erkennbare Form der Muttersprache gewesen. Das Vaterunser ist sich auf Katharevousa und Dhimotiki wesentlich gleich.

"noch immer heiß diskutiert."

Ich volge einer These eines Latinisten / Romanisten, dessen Namen ich vergaß. Vor 813 wird die Volkssprache nicht "lingua romana rustica" genannt. Vor 813 findet mann keine beschwerden über ein Volk das die Texte nicht versteht. Vor 800 findet mann aber einen italienischen Priester in Gallien auf Besuch, der die in Gallien gesprochene Taufformel für theologisch zweifelhaft, wenigstens mometan, hielt.

Mi, 13.III.2024

Josef G. Mitterer
Nicht ich, solange das geschriebene Latin wie die Volkssprache ausgeprochen wird. D. h. solange in der hl. Messe eine prachtvollere aber erkennbare Form der Muttersprache gesprochen wurde.


Nun ja, in dem Fall ist aber auch zu bedenken, dass die morphologische Diskrepanz zwischen Latein und (Proto-)Romanisch schon beträchtlich war. Schon in der "klassischen" Periode wies das Vulgärlatein wohl schon zahlreiche grammatische Eigentümlichkeiten auf (was sich gerade bei Plautus zeigt, der die klassischen Autoren ja vordatiert).

Bis 800–813 in Tours und noch 200 Jahre später in Spanien / Italien ist das geschriebene Latein eine prachtvolle aber erkennbare Form der Muttersprache gewesen.


Auch das ist nach meinem Dafürhalten nur eine terminologische Haarspalterei. Es war also eine Zeit lang eine erkennbare Form der Muttersprache, später war es eine nicht mehr erkennbare Form der Muttersprache. Ich verstehe noch immer nicht, was das ändert. So oder so sind die romanischen Sprachen in ununterbrochener Tradition aus dem Vulgärlatein hervorgegangen. Sie sind insofern nicht älter oder jünger als irgendeine andere indoeuropäische Sprache (wenn wir die Kreolsprachen außer Acht lassen, die in gewisser Weise tatsächlich "neue" Sprachen sind).

Hans-Georg Lundahl
"dass die morphologische Diskrepanz zwischen Latein und (Proto-)Romanisch schon beträchtlich war"

Aber die Morphologie kann in Schichten existieren. Katharevousa existiert als Oberschicht der Dhimotiki. Varianten mit "thou hast" (wie Shakespear) existieren im English.

Das ist es was verloren geht nach einem Re-Boot der Schreibung der Muttersprache.

"Es war also eine Zeit lang eine erkennbare Form der Muttersprache, später war es eine nicht mehr erkennbare Form der Muttersprache."

Es war bis 800 in Tours ausschlieslich eine erkennbare Form der Muttersprache, wie Katharevousa heute noch auch. Das Standardlatein war ab 813 NICHT MEHR eine erkennbare Form der Muttersprache. Das früher existierende hatte zwar noch nicht aufgehört zu existieren, war aber aus der Liturgie verpöhnt.

Was sich geändert hatte?

  1. Aussprache. / Credo in unum Deum / nicht mehr [kreið e~ ü~ Djew] sondern [kree-do in uh-num Dee-um]
  2. Abschaffen der morphologisch lockeren Schreibungen wie bei Gregor von Tours.


Diese beide Dinge waren die Arbeitsaufgabe des Alcuin.

Für Spanien läßt sich der entsprechende politische Beschluß an ein Concil von Burgos im 11:ten Jahrh. anschließen. In beiden Fällen haben wir einen Text in der Volkssprache (Eulalia-Sequenz btw. Cantar del mio Cid) binnen 100 Jahren.

Josef G. Mitterer
Aber die Morphologie kann in Schichten existieren. Katharevousa existiert als Oberschicht der Dhimotiki. Varianten mit "thou hast" (wie Shakespear) existieren im English.


Das sind aber nur vereinzelte Reste. Wenn lateinisch pulchris rebus geschrieben stand, entsprach das romanischem con bellas cosas bzw. con belle cose; lateinisch sincere loquar entspricht romanischem *parlare-hao sincera-mente (oder Ähnlichem); quamvis eam entsprach wahrscheinlich noch gar keinem eigentlichen Konzessivsatz, sondern wurde wohl über einen Konditionalsatz aufgelöst; jedenfalls aber hat das Romanische fast das ganze System der klassischen unterordnenden Konjunktionen verworfen. — Das sind riesige Diskrepanzen, die zum Teil schon bei Petronius und in Pompeji zutage treten. Es ist undenkbar, dass die frühen "Romanen" pulchris rebus geschrieben, aber con bellas cosas gesagt haben.

Aussprache. / Credo in unum Deum / nicht mehr [kreið e~ ü~ Djew] sondern [kree-do in uh-num Dee-um] …


Wie eben gesagt, die morphologischen Diskrepanzen waren schon zu jener Zeit viel zu groß, als dass Latein noch Muttersprache hätte sein können.

Hans-Georg Lundahl
Nicht ein Latein wie das des Gregor von Tours. Echt Zwei-Casus-System u dgl.

Ihre Beispiele der Unmöglichkeiten sind zum Teil aus der Schicht die ihm wirklich altmodisch und … übergelehrt … war.

"Es ist undenkbar, dass die frühen "Romanen" pulchris rebus geschrieben, aber con bellas cosas gesagt haben."

Warscheinlichst eher "bellas res" geschrieben und in weniger hochtrabendem Stil "co~ beal@es tchos@s" gesprochen.

Bellas res adornata erat, quia maritum adtendebat.
Beal@s reis adornäðe ert, k@ marið atten~dei@.
Ert adornäðe ko~ beal@s tchos@s, k@ atten~dei@ lo marið.

Die genaue Entsprechung der Schrift und die volkstümliche Phrase sind nicht identisch, aber eben mit Angewöhnen gegenseitig verständlich.

Josef G. Mitterer
Selbst wenn dem so ist — was wäre damit bewiesen?

Hans-Georg Lundahl
  1. Tours vor 800, Latein compatibel mit der Muttersprache. Aber nicht mit dem Latein Italiens oder Englands.
  2. Tours ab 813, liturgisches Latein compatibel mit dem Latein Italiens oder Englands, aber nicht mehr mit der Muttersprache.


Abspaltung also wenigstens von der einen Seite, dann auch der anderen, eine absichtliche Handlung. Entgegen dem Vorurteil Sprache sei NUR die Entwicklung der Mundart und diese spaltet sich NUR graduell von der vorherigen ab.

Ich bin dabei ein Stück von Gesta Francorum zu phonetisieren und dann eine volkssprachliche Übersetzung darunter.

Josef G. Mitterer
Ich kann dem nicht ganz folgen. Dass eine Diglossiesituation vorliegen kann, stand ja nie zur Debatte. Etwas Ähnliches geschieht ja auch heute im deutschen Sprachraum. In der Schweiz in breitem Umfang, tendenziell auch in Österreich, sogar ebenfalls mit beträchtlichen Unterschieden auch in der Grammatik (etwa in der Verwendung des Genitivs oder des einfachen Präteritums). Auch hier entwickelt sich die Standardsprache parallel zu den Dialekten, und es gibt auf beiden Seiten Interferenzphänomene. Beide Sprachformen gehen mittelbar bzw. unmittelbar auf das Mittelhochdeutsche, das Althochdeutsche, das Proto-Germanische usf. zurück.

Und was die graduelle Abspaltung anbelangt, so ist dem ja auch wirklich so. Materiell ist mit dem Romanischen 813 nichts Wesentliches geschehen.

Do, 14.III.2024

Hans-Georg Lundahl
Haben Sie überhaupt Soziolinguistik und Code-Switching genau angeschaut?

Zwischen Schweizerdeutsch und Standard-Deutsch ist die Situation sehr anders als ich sie für vor 800 in Tour, vor 1080 in Burgos schildere.

Schweizerdeutsch und Standard-Deutsch unterscheiden sich in der Aussprache. Die Beispiele die ich aber gab waren Englisch (mit der Lesbarkeit Chaucers) und Neugriechisch (Katharevousa hat teilweise verschiedene Morphologie und Wortschatz, aber dieselbe Aussprache wie Dhimotiki).

Ein gebildeter Mensch der 813 erwachsen war hatte in Tours gerade eine (für ihm) neue Aussprache des Lateins gelernt die seine Muttersprache war. Sein Enkel dafür kannte zwei Sprachen, das Französisch mit seiner Schreibung, und das gerade alcuinische Latein, eine Fremdsprache. Materiell ändert sich nichts für ihm selbst, aber die materielle Änderung wird zwischen ihm und seinen Enkel dafür sehr beschleunigt. Etwa wie im Englischen zwischen 1166 und Chaucer.

Josef G. Mitterer
Nach meinem Dafürhalten sind das immer noch sprachgeschichtliche Details, die nichts am Umstand ändern, dass sich das Französische langsam aus dem Lateinischen entwickelt hat. Es ist ja nicht 813 "entstanden"; nur in dem Fall könnte man behaupten, es sei mehr oder weniger alt etwa als Spanisch oder Italienisch. Dem ist aber nicht so, sondern es beruht auf einer ununterbrochenen Tradition.

St. Patriks-Tag, So
17.III.2024

Hans-Georg Lundahl
In der Schrift ist dem nicht so:

Φιλολoγικά/Philologica: Latein und Romanisch
https://filolohika.blogspot.com/2024/03/latein-und-romanisch.html


Josef G. Mitterer
Ja, aber darum ging es ja nicht. Gesprochene Sprache ist immer primär und immer als Erstes gemeint (oder zu meinen), wenn man von Sprache überhaupt spricht. Dass eine gesprochene Sprache plötzlich eine andere Sprache wird, ist einfach nicht möglich. Auf der schriftlichen Seite kann natürlich alles Mögliche plötzlich passieren. Von der ersten Verschriftlichung überhaupt über den Wechsel des Schriftsystems bis hin zu mehr oder weniger durchgreifenden orthografischen Reformen. Das schlägt sich dann natürlich auch mittel- bis langfristig mehr oder weniger in der gesprochenen Sprache nieder, aber ändert nichts an der kontinuierlichen Natur des Sprachwandels.

Mo, 18.III.2024

Hans-Georg Lundahl
"Gesprochene Sprache ist immer primär"

Nicht in allen Situationen.

"Das schlägt sich dann natürlich auch mittel- bis langfristig mehr oder weniger in der gesprochenen Sprache nieder"

Nach 800 sehr kurzfristig, nur drei Generationen.

// Die Eulalia-Sequenz ist in Altfranzösisch, also einer aus dem Vulgärlatein entwickelten Sprache, verfasst. Dieser Text weist einige der Hauptmerkmale dieser romana lingua auf, wie beispielsweise einen tief greifenden Wandel im Phonemsystem, Vereinfachungen im Deklinationssystem, Entwicklung hin zur Verbalperiphrase, erstes Auftreten des Artikels, des Personalpronomen in der 3. Person, des Konditionals (conditionnel) etc. Die Schreibform des Altfranzösischen in der Eulalia-Sequenz ist dabei in der Wiedergabe der Phonie schon recht gut entwickelt. Man erkennt außerdem neben der abnehmenden Latinität einen zunehmenden französischen Habitus. Dennoch finden sich noch Latinismen (anima, Deo, inimi, rex, Christus, post, clementia) und Halblatinismen (menestier, colpes, virginitét). Die Kirche stand dem Volk bzw. der Volkssprache bereits viel näher als es beispielsweise juristische Texte wie die Straßburger Eide taten. Viele dieser Wörter wurden im theologischen Sinn verwendet und dabei direkt aus der lateinischen Liturgie in die Volkssprache entlehnt. //


Eulalia-Sequenz – Wikipedia
https://de.wikipedia.org/wiki/Eulalia-Sequenz


  • 800–813 Reform der Latein-Aussprache in Tours.
  • 842 Die Aussprache-Regeln lassen es zu einen wesentlich altfranzösischen Text niederzuschreiben
  • 882 Eulalia-Sequenz.


In 80 Jahren, eine konstante Abnahme der Latinismen. Die Wikipädisten denken es wäre wegen dem Genre, ich denke es war wegen der neuen Generation.

Josef G. Mitterer
"Gesprochene Sprache ist immer primär"

Nicht in allen Situationen.


Wenn nicht, ist aber eigens auf die Schrift(lichkeit) zu verweisen.

Was den zweiten Punkt betrifft, selbst wenn man anerkennt, dass die lateinische Aussprachereform einen markanten Entwicklungsschritt in der französischen Sprache bewirkt hat (wobei sich das angesichts der problematischen Beleglage wohl gar nicht so leicht beweisen lässt), so ist damit nur der eingangs erwähnte Klassifikationsschritt gerechtfertigt (ebenso wie man die Zweite Lautverschiebung zur Klassifikation der hochdeutschen Stufe heranziehen kann), es ist aber keineswegs eine neue Sprache entstanden.

Hans-Georg Lundahl
Insofern als mit einer "Sprache" gewöhnlicherweise unter civilisierten Menschen eine Combination der Schrift und der Aussprache, und auch eine Sammlung von Sprachschichten, wie im Englischen z. B. zwischen Cockney und Buckingham Palace.

Insofern eine Aussprache dann neu an einer anderen Schrift angepaßt wird, wobei auch eine große Zahl der Sprachschichten einfach verschwindet, kann mann schon von einer neuen Sprache, d. h. einer neuen Combination, reden.

Jedenfalls war Altfranzösisch in 800 noch als Latein schreibbar, und vernehmbar in 882 nicht mehr. Die Code-Switching zwischen Bauernsprache und die Sprache der Liturgie war einer anderer Art.

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